Die Predig von Pfarrer Marcus Wolf für den 6. Sonntag der Osterzeit
Liebe Schwestern und Brüder!
Es ist schon absurd, wie sich so manches durch den Coronavirus verändert, manches, sogar ins Gegenteil:
Vor dem Virus bedeutete, einem Menschen „seine Liebe oder Nähe“ zu zeigen, z.B. beim Begrüßen in den Arm zu nehmen oder sogar Küsschen auf die Wangen zu geben.
Jetzt aber heißt es immer wieder: Weil wir einander lieben, halten wir Abstand und tragen wir Mund- und Nasenschutz.
Gerade aus Liebe sollte es wochenlang keine persönlichen Kontakte zwischen Großeltern und Enkelkindern oder zwischen Freunden geben. Jetzt sind diese endlich wieder möglich, aber trotzdem gilt weiterhin: Kontakt ja, aber Abstand halten aus Liebe. Irgendwie paradox!
Völlig neue Regeln, an die wir uns erst noch gewöhnen müssen, vielleicht gar nicht so recht gewöhnen wollen, die uns aber wohl noch längere Zeit belgeiten werden. Und niemand weiß, wie uns diese neuen Regeln auch in unserem Verhalten hinsichtlich der Sozialkontakte verändern werden.
Werden wir durch Corona wieder distanzierter? Kommt wieder die Zeit, wo es unüblich ist, dass Eltern ihre Kinder in den Arm nehmen oder dass Freunde sich zur Begrüßung unterhalten?
Völlig neue Regeln, massive Freiheitseinschränkungen, die ganz am Anfang der Krise fast widerstandslos von den meisten akzeptiert, zumindest hingenommen und von der überwiegenden Mehrheit auch befolgt wurden, aber jetzt regen sich immer mehr Wiederstände. Vermutlich auch, weil zu viele einzelne Regeln verunsichern und sich manche Regeln am grünen Tisch plausibel anhören, aber für die Praxis untauglich sind.
Auch in mir regt sich so mancher Widerstand gegen die eine oder andere Auflage, die wir befolgen müssen, um wieder Gottesdienste feiern zu können, die aber dem Gottesdienst seine Würde rauben.
So finde ich das Tragen des Mund- und Nasenschutzes im Gottesdienst schrecklich, weil ich dadurch nicht mehr mit meiner Gemeinde kommunizieren kann. Ich sehe keine Gesichtszüge und damit auch keine Reaktionen, auch wenn ich z.B. in meiner Predigt eine persönliche Frage zum Nachdenken stelle. Und ich spüre, dass gerade Ältere es nicht aushalten, die Maske eine Stunde lang zu tragen.
Einer Regel habe ich mich gleich verweigert, nämlich die Kommunion mit Gummihandschuhen auszuteilen. Als Alternative finde ich die Zangen würdiger, auch wenn’s hin und wieder nicht ganz klappt.
Andere Gemeinden haben entschieden, dass die Gottesdienstbesucher sich anmelden müssen. In der Zeitung war zu lesen, dass sogar Leute die Teilnahme am Gottesdienst im Freien verweigert wurde, weil die Höchstteilnehmerzahl erreicht war. Meiner Mutter ging es ähnlich, sie wurde an der Kirchentür als „nicht angemeldet“ abgewiesen. Ich dagegen bin der Meinung: Für einen Gottesdienst darf es kein Ausschlussverfahren geben, auch nicht und vor allem nicht in Krisenzeiten, deswegen gibt es bei uns kein Anmeldeverfahren. Irgendwo findet sich immer noch ein Platz, wenn man die Regeln nicht zu kleinlich auslegt.
Die Beispiele zeigen, dass es Regeln braucht, manchmal auch neue oder auch strengere Regeln, wenn es sein muss, auch Regeln, die alles Bisherige auf den Kopf stellen.
Aber Regeln helfen nur, wenn sie für alle, zumindest für die überwiegende Mehrheit einsichtig und vollziehbar sind.
Wir alle befinden uns seit mehreren Wochen schon in einem Lernprozess.
Vor allem mussten wir und müssen wir immer noch lernen, die Vorschriften dem Sinn nach anzuwenden und sie von Woche zu Woche neuen Erkenntnissen gemäß anzupassen.
So hoffe, ich, dass sich die „neuen“ Regeln weiterhin ändern, hoffentlich in Richtung einer Lockerung, bis es endlich wieder heißt: weil ich dich liebe, umarme ich dich oder küsse ich dich und nicht: weil ich dich liebe – halte ich Abstand.
Im Evangelium heute sagt Jesus: "Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten" und "Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben…"
Der Umgang mit den Geboten Jesu ist ähnlich anspruchsvoll wie der Umgang mit den Corona-Schutzmaßnahmen.
An sich sind die Gebote Jesu und die Gebote Gottes aus dem Ersten Bund ganz einfach. Sie lassen sich mit dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammenfassen oder an den zehn Fingern aufzählen.
In der konkreten Anwendung schaut es schon anders aus, da gibt es Diskussionsbedarf.
Ein Beispiel: Wann fängt das „Ehebrechen“ an? oder bezieht sich „Du sollst nicht töten!“- nur auf Mord und Totschlag oder gehört da auch Mobbing, Gerüchte schüren, etc. bereits dazu? Gilt das Gebot, du sollst Mutter und Vater ehren, nicht auch umgekehrt für die Eltern: du sollt Tochter und Sohn ehren?
Eine Frage ist immer auch: Wie gehe ich mit den Geboten um? Wie lege ich sie aus? Wie streng setze ich sie um? Welche Rolle spielt dabei die Barmherzigkeit?
Für Jesus z.B. beginnt Ehebruch schon damit, andere Frauen lüstern anzuschauen. Der überführten Ehebrecherin aber, die nach damaligen Recht gesteinigt werden soll, rettet er das Leben und ermöglicht ihr einen Neuanfang…
So müssen also auch die Gebote Jesu, die Gebote Gottes immer neu ausformuliert, interpretiert werden, dazu hat uns Gott einen gesunden Menschenverstand geschenkt und – viel wichtiger – seinen Heiligen Geist.
Nehmen wir deshalb auch die auferlegten Einschränkungen und teilweise völlig neuen Gebote und Verbote als ein Gebot der Nächstenliebe an, zumindest vorübergehend, solange sie notwendig sind, um einander, ja, um Leben zu schützen. Amen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Pfarrer Marcus Wolf